Es war Mitte Februar 2020 und man nahm die ersten Meldungen, wonach sich ein neues Virus in Form einer „Chinesischen Grippe“ auszubreiten begann, mit jener zurückhaltenden Beachtung zur Kenntnis, wie sie weit entfernt stattfindenden Ereignissen zuteil zu werden pflegt. Als dann jedoch in der ersten Märzwoche ernsthafte Quarantäne- und andere Schutzmaßnahmen zur Diskussion standen, schlug bei Prof. Edith Temmel, der Grande Dame der steirischen Moderne, der künstlerische Seismograph heftig aus – sie begann ihre Vision einer Pandemie zu malen.
Seit kurzem liegt ihr spannendes, aus 37 in Mischtechnik im Format 80 mal 60 Zentimeter auf Papier gemalten Bildern bestehendes Werk mit dem Titel „Corona Tagebuch“ auch in gedruckter und gebundener Form vor. Edith Temmel zu Abenteuer Alter: „Ich habe gefühlt, dass etwas noch nie Dagewesenes auf uns zukommt und habe die Enge, die ich allein bei dem Wort Quarantäne schon fühlen konnte, mit malerischen Mitteln dokumentieren wollen.“
„Ich habe“, fährt die Künstlerin fort, „am 9. März zu malen begonnen und am Ostermontag – es war der 13. April 2020 – den Zyklus abgeschlossen. Diese Tage, die eine neue Phase in unserem Dasein einleiteten, dürfen einfach nie vergessen werden.“
Ihr Tagebuch sollte jedoch den Beginn einer bisher unvorstellbaren Pandemie nicht nur in Farben ausdrücken, sondern auch durch einen darauf behutsam abgestimmten Wortanteil zur Nachdenklichkeit anregen. Um dies zu erreichen, griff Edith Temmel auf ein literarisches Freundesteam zurück – die „Wortspinnerinnen.“
Diese im Jahre 2012 auf Initiative von Gertrud Mayer-Reinbacher gegründete Gruppe trifft sich in regelmäßigen Abständen zum Schreiben. Die „Wortspinnerinnen“ zeigten sich von Edith Temmels Idee, Texte zu den Bildern zu verfassen, ohne Wenn und Aber begeistert und so nahm das Gesamtkunstwerk „Corona Tagebücher“ endgültige Gestalt an. „Viele hatten ohnedies von sich aus schon die Geschehnisse in eigenen Tagebüchern notiert und kommentiert“, erinnerst sich die Künstlerin, „und so sind von Ostern bis Mai 2020 zu meinen 37 Bildern noch 37 Texte entstanden. Die Zeit der Corona-Pandemie wollte ich als Zeit einer Ausnahmesituation dokumentieren, da die gesamte Bevölkerung davon betroffen war und noch immer ist. Besonders aber waren es wir Künstlerinnen und Künstler – keine Ausstellungen, Auftrittsverbote, kein Einkommen. Eine gemeinsame Aufgabe kann in einer Zeit der Isolation, wenn auch im virtuellen Raum, den Zusammenhalt einer Gruppe stärken und neue kommunikative Energie erzeugen. Die Kunst braucht den Dialog und die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen.“
Edith Temmel ist seit dem Jahre 1965 in der Grazer Kunstszene beheimatet, ihr Atelier: eine Garage am Grazer Rosenhain. Aber nicht irgendeine Garage, eine der ganz besonderen Art. Mit ihr und der dazugehörenden Villa fängt Edith Temmels ungewöhnliche Familiengeschichte in der Grazer Landeshauptstadt eigentlich an.
Jahrelang war der gelernte Mechaniker Oscar Gienke aus Bautzen mit Frau und Kind mit seinen „lebenden Photographien“ bereits durch die deutschen Lande getingelt, als es ihn dann mit seinem Wanderunternehmen nach Österreich mit der Endstation Graz verschlug.
„Das war unser Großvater, der nach längerer Wanderschaft mit 22 Meter Film, einem Kinematographen und einem Vorführzelt schließlich im Jahre 1906 in der heutigen Grazer Conrad-von-Hötzendorf-Straße das ‚Erste Grazer Bioskop‘, später bekannt als ‚Tonkino‘ praktisch als zweites Standbein zu seiner Wandertätigkeit eröffnete“, weiß Edith Temmel aus der Familienchronik zu berichten.
Ein Brand seines Vorführzeltes ließ dann den Großvater seine Wandertätigkeit beenden, er dürfte einiges an Geld dabei verdient haben, denn bereits 1909 eröffnete er das „Bioskoptheater Annenhof“ mit 700 Sitzplätzen in der Annenstraße 29, das bis zum Verkauf an die UCI im Jahre 1996 im Familienbesitz bleiben sollte.
Nur ein Jahr später – man schrieb das Jahr 1910 – erbaute Oscar Gienke in der Panoramagasse eine wunderschöne Villa, womit wir wieder bei der Garage wären, die großzügig angelegt ohne Weiteres einem „Garten-Lusthaus“ zugeordnet werden könnte. Das ist heute die Kreativwerkstätte Edith Temmels.
Wie die Grande Dame der steirischen Kunstszene, die das „Kino-Handwerk“ vom Kartenabreißen und Platzanweisen über das Versprühen von Tannennadeldüften nach der Vorstellung mittels Flitspritze, Zuckerl- und Limoverkauf am Buffet und Filmvorführung von der Pieke auf beherrschte, auf die Kunst kam, ist wieder eine andere Geschichte, die Edith Temmel ausnahmsweise für Abenteuer Alter erzählt.
„Ich habe noch ziemlich jung 1965 geheiratet, mein Mann war Jurist und dann Salesman bei IBM, wir hatten eine Tochter und ich musste oder sollte mich bald mit der Tatsache abfinden, dass damals das Leben einer Frau von den drei K bestimmt war – Kinder, Kirche, Küche. Es war mir. als rücke die Decke jeden Tag ein wenig weiter herunter. Ich begann zu zeichnen und habe damit selbst therapiert, ich wollte wissen, was in mir vorgeht, wie sehe ich innerlich aus.“
Sie bekam Kontakt zu Künstlerkreisen, „unvergesslich für mich die liebevolle Aufnahme durch die Malerin Elga Maly, der Frau von Günter Waldorf. Sie hat meine Situation erkannt, hat mich unter ihre Fittiche genommen, mich Lehrern ans Herz gelegt. Auf ihr Anraten habe ich Kurse bei der Urania und bei der Volkshochschule besucht, den Max Dörner als Bibel für die Malkunst verschlungen.“
Auf ihrem Weg zur Kunst mussten zwar mühsam Steine beiseite gerollt, schwierige Passagen überwunden werden, doch sie nahm sämtliche Strapazen auf sich, auch die Scheidung im Jahre 1972. Im Gegenzug begannen sich die Erfolge einzustellen. Ausstellungen, Anerkennung.
Edith Temmel lernte über den legendären Kulturchef der Kleinen Zeitung, Kulturkritiker und Förderer junger Künstler Karl Hans „Charly“ Haysen einen Personenkreis rund um ihn als Galionsfigur kennen, der in seiner Form prägend und visionär für das kulturelle Leben mit Schwerpunkt Graz im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts war.
Gemeinsam mit Magret Roth hält Edith Temmel das Erbe eines der ganz herausragenden Künstler aus dieser Zeit hoch – er war Maler, Auto, Filmemacher, Pfarrer und Organisator von Sommerklausuren, die der Förderung des Künstler-Nachwuchses gewidmet waren. Es war dies der leider im Jahre 1999 noch jung verstorbene Josef Fink, Rektor des Kulturzentrums bei den Minoriten. Die beiden Damen Roth und Temmel betreuen heute noch als Obfrauen die „styriaArt foundation“ als Organisation ganz im Sinne von Josef „Pepi“ Fink.
Ein Besuch im Atelier von Edith Temmel bedeutet eintauchen in eine Welt der Farben, die noch an Ausdruck zu gewinnen scheinen, wenn die Künstlerin den Betrachter an ihren Visionen teilhaben lässt.
„Angefangen habe ich seinerzeit mit dem Malen von Puppen, sie alle hatten keine Augen. Ich konnte sie zusammensetzen, wie ich mich selbst erst zusammensetzen musste. Aber es waren keine Kasperln. Ich war damals vom ersten Drama Peter Handkes „Kaspar“ stark beeindruckt – von den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache.“
Heute malt sie Klangbilder. „Ich kann ohne Musik nicht malen. Du kannst dir bei mir die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach ansehen oder Beethovens Mondscheinserenade. Wenn es gelb klingt, male gelb. Oder blau. Wie auch immer. Ich male Musik zum Anschauen. Wenn ich weinen will, spiele ich Tschaikowskys Pathetique, wenn ich lustig sein will, dann Gipsy Jazz.“
Die Vielseitigkeit der steirischen Künstlerin wird aber nicht nur in ihren Bildern sichtbar, sie entwarf und stickte persönlich Messkleider. Papst Benedikt XVI trug eines, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner ebenso. Und der Altarvorhang während der Umbauphase im Grazer Dom stammte von? Edith Temmel.
Abenteuer Alter gestand sie auch ihre heimliche Liebe. Nicht Leinwand, Papier, Glas ist’s. „Ich liebe das Glas, weil wenn du Glas vor dir hast, willst du durchsehen, den Hintergrund sehen, bist dir aber gleichzeitig bewusst, dass dies andere Räume sind. Du bist in einem Raum, dann das Glas, dahinter ein anderer Raum. Es verführt dazu, in die Tiefe zu gehen, ohne diese Tiefe zu gestalten.“
Die Künstlerin erklärt es am Beispiel Grazer Franziskanerkirche: „Das Glasfenster dort vermittelt uns, ins Weltall blicken zu können, ohne ein Bild vom Universum zu reproduzieren, sondern will dir jene innere Projektion widergeben, wenn du in das Weltall reisen könntest.“
Sehenswerte Glasarbeiten von Edith Temmel finden sich unter anderem auch in der Pfarrkirche Hönigsberg, in der Hauskapelle des Sacre Coeur, in der Pfarre Graz-Süd und im Andachtsraum des Leobner Studentenheimes.