Ich bin kein Fall für die Altersmedizin! – Exklusivinterview

Die Geriatrie kann Unglaubliches leisten, dennoch wehren sich viele ältere Menschen gegen die Vorstellung, „auf der Geriatrie zu landen“. Das liegt für Dr. Peter Mrak vor allem an mangelnder Kommunikation.

Auf allen Ebenen der Behandlung, nämlich in den Spitälern, den Tageskliniken, bei den niedergelassenen Ärzten und in den Senioren- und Pflegeheimen, erreicht die Geriatrie ein Niveau, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar war. Das sagt mit großem Ernst der Primarius der Inneren Medizin am LKH Weststeiermark in einer weiteren „Sprechstunde“ für Abenteuer Alter.

Der führende Altersmediziner des Landes steht für die Fortschritte in diesem Bereich wie kaum ein zweiter. In den Spitälern gehören akutgeriatrische Abteilungen mittlerweile zum Standard, Allgemeinmediziner und Fachärzte leben in ihren Praxen die Zusammenarbeit bei der Behandlung älterer Patienten, geriatrische Konsiliardienste (GEKO) und die mobile Altersmedizin wirken bereits weit in die Heime und in das häusliche Umfeld der Patienten hinein.

Mrak sieht den Sektor bald breit genug aufgestellt, dass Risiken und akute Bedrohungen für ältere Menschen wie Degenerationen wie beginnende Demenzerkrankungen oder Sturzgefahr und Gebrechlichkeit sehr viel früher erkannt werden können. So ist eine nachhaltige Behandlung und Betreuung gewährleistet. Die Aufgabe der nächsten Jahre ist, dass ältere Patienten möglichst flächendeckend in ganz Österreich zu diesen Möglichkeiten Zugang haben.

„Einen erfolgten bösen Sturz kann die Geriatrie nicht verhindern, aber einen weiteren.“

Auf dem Weg dorthin hat dieses „gesellschaftliche und medizinische Großprojekt“, wie Mrak es nennt, noch eine Hürde zu nehmen, die mit Medizin im engeren Sinn wenig zu tun zu haben scheint: Kommunikation. Vielen Menschen muss es erst bewusst gemacht werden, welche Leistungen die Geriatrie längst erbringen kann. Das Hauptproblem ist, dass sie meinen, sie wären „noch kein Fall für die Altersmedizin.“ Damit verzichten sie allerdings unbewusst auf die Früchte des Fortschritts in diesem Bereich.   

Deshalb sollte die Kommunikation über die Möglichkeiten der modernen Altersmedizin bei der Zielgruppe und bei den Angehörigen so früh wie möglich beginnen. Mrak gibt zu bedenken, dass die Betroffenen in frühen Stadien einer gesundheitlichen Beeinträchtigung sehr verunsichert über das sind, was sie wahrnehmen. Bei wem die Kommunikation über die Vorzüge der Altersmedizin noch nicht angekommen ist, wehrt sich gegen die Vorstellung, „ein Fall für die Geriatrie“ zu sein.

„Die beste Kommunikation ist die gelungene Behandlung.“

Mrak setzt auf konservative Methoden: „Die beste Kommunikation ist die gelungene Behandlung.“ Diese Erfahrung des Erfolgs durch altersmedizinische Betreuung kann jede und jeder für sich gut beurteilen. Dann erkennen die Menschen es an, dass die Geriatrie auch für sie eine gute Sache ist und empfehlen sie sogar aktiv weiter. Der Experte hat das wiederholt bei Patienten erlebt, die durch ein Akutereignis – etwa einen Knochenbruch – einen Teil ihrer Selbstständigkeit verloren haben. Gelingt die Wiederherstellung und Genesung mit dem Instrumentarium der Altersmedizin, wissen diese Menschen genau, „was es wert ist, die Autonomie wieder zurückzuerlangen.“

In seinen unzähligen Kontakten mit Akutpatienten höheren Alters hat der Experte immer wieder dasselbe mitgenommen: „Der Patient möchte stets möglichst unbeschadet aus der Situation herauskommen. Er will vermeiden, dass seine Selbstständigkeit nachhaltig beschädigt wird.“ Eine akute Situation trat für solche Personen fast immer plötzlich und unerwartet ein, sie erfassten diese erst, als sie bereits eingetreten war. Dann kommt das Aha-Erlebnis: „An das hätte ich nicht gedacht“. Nämlich daran, wie ein harmlos erscheinendes Ereignis durch die Multiplikation von Faktoren bewirken kann, dass jemand zum Fall für die Geriatrie wird und dort gleichzeitig in besten Händen ist.

Deshalb sieht Mrak den Schlüssel für gelungene Kommunikation darin, das Image der Altersmedizin aufzubauen. Dann werden Menschen der älteren Generation, die im Fall des Falles in der Geriatrie landen – und solche Fälle sind meist überraschend –, nicht mehr entrüstet postulieren, sie hätten dort nichts verloren. Sie werden vielmehr wahrnehmen, wie Behandlung und Kommunikation generationengerecht ineinandergreifen.

In der Altersmedizin ist die richtige Reihenfolge der Maßnahmen noch wichtiger als in anderen Bereichen, es ist mehr Geduld gefordert, um dorthin zu kommen, wo sich die Patienten es wünschen. Und es braucht die Einsicht, dass es nicht immer gelingen kann, den Stand des ursprünglichen Befindens wiederherzustellen, im Mediziner-Latein restitutio ad integrum. Vielmehr muss vorausschauende Kommunikation die Betroffenen auf eine restitutio ad optimum vorbereiten, auf ein „so gut es geht“. So lässt das Repertoire der Geriatrie manchmal nur zu, was sich gewissermaßen noch machen lässt. Ein bereits erfolgter böser Sturz kann nicht mehr verhindert werden, ein weiterer aber sehr wohl. In diesem Umfeld einer vorausblickenden altersmedizinischen Versorgung und entsprechender Kommunikation spüren die Menschen nach Mraks Erfahrung sofort, welche Maßnahmen Fortschritte bringen und sie bekommen sehr rasch ein Gefühl dafür, was sie nicht wollen.

„Die Menschen wissen genau, was ihre Autonomie wert ist.“

Teil dieser Prozesse auf allen Ebenen ist das Miteinander von Allgemeinmedizinern und Fachärzten. Dabei widerspricht Mrak klar der Meinung, es gebe in der Medizin schon zu viel Spezialistentum, „dass sich keiner mehr auskennt.“ Er wird sogar mehr als deutlich: Spezialisierung ist für ihn nicht weniger als „Ausdruck des Fortschritts in der Medizin.“ Trotz dieses Bekenntnisses ist es aber gerade in der Geriatrie wichtig, dass ein Akteur im Umfeld von Generalisten und Spezialisten den Patienten durch das System leitet, dass einer koordiniert, den Weg vorgibt, dafür sorgt, dass der rote Faden nicht verloren geht, und der Verantwortung letztendlich trägt. Je komplexer ein medizinischer Fall gerade in der Altersmedizin ist, umso mehr ist das zu beachten. Mrak bemüht ein plastisches Bild: Gibt es keinen Mediziner, der diese Funktionen erfüllt, fühlen sich die Patienten wie in einem Labyrinth, allein gelassen in einem undurchschaubaren System, in dem buchstäblich ständig Türen auf- und wieder zugehen.

Der Experte lässt keinen Zweifel daran, wer dieser „Chef des Verfahrens“ ist: „Das kann wunderbar der Hausarzt sein.“ Auf jeden Fall muss es ein Mediziner sein, der kontinuierlich verfügbar ist. Dabei verweist er darauf, dass es in der medizinischen Hierarchie und Ausbildung in Österreich das Fach der Geriatrie nicht wie in anderen Ländern gibt. Er sieht darin per se keinen Nachteil, sondern verweist darauf, dass sich bei uns für Geriatrie spezialisierte Sonderfächer entwickelt haben: „Sie lassen es zu, dass man sich für die Bedürfnisse der Älteren im Besonderen interessiert und darauf spezialisiert.“ Diese Inhalte finden dann kontinuierlich Eingang in die normale Medizin. Zum Abschluss der „Sprechstunde“ betont Mrak leidenschaftlich die Fortschritte in der Altersmedizin: „Es ist viel geschehen, es muss noch mehr werden und wir sind auf einem guten Weg.“

Die „5M“

Die Geriatrie hat ihr Leitprinzip sehr einfach auf fünf Hauptpunkte heruntergebrochen, welche im Amerikanischen die „fünf M“ genannt werden: 

  • Mobilität (die Möglichkeit, sich selbst zu helfen, als Schlüssel der Autonomie) 
  • Multimorbidität (das Zusammentreffen mehrerer Krankheitsbilder)
  • Mind (die Beeinträchtigung der Geisteskräfte), 
  • Medikation (mehrere Erkrankungen bedingen eine größere Zahl von Medikamenten) 
  • Matters most  (die wichtigsten Ziele, die sich die Betroffenen selbst stellen)

 

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26.01.2022