Yoga für Herz & Ohr

Der Opa will noch ein Instrument erlernen? Eine Musikschule nur für Senioren in Graz stellt die Freude am Musizieren in den Mittelpunkt.

Musik mit Gesang und Instrumenten erlernen, mit Freude, aber ohne Zwang, mit Ernst, aber ohne Druck. Dieses Kunststück bietet in Graz eine private Initiative im Umfeld der Musikuniversität an und hat schon mehr als 60 Damen und Herren der reiferen Generation begeistert. Günter Meinhart, der seit vier Jahrzehnten Musik unterrichtet, hat die Anleitung zu dieser Erfolgsgeschichte nicht dem Probenraum oder dem Konzertsaal entnommen, sondern seinen wöchentlichen Yoga-Stunden. „Dort fühle ich mich wohl, da sind unheimlich angenehme Menschen.“ 

Günter Meinhart

Dieses Feeling sollte doch auch Musikstunden prägen, fand der 64-Jährige und schritt Anfang 2018 mit seiner Erfahrung als Musiker, Pädagoge und Initiator einer Schlagzeugschule in Graz zur Tat. Das Ergebnis ist eine „Musikproduktionsstätte“ für Menschen über 60 mit dem Namen „Klangwelt60+“, die er mit der Erwachsenenbildnerin Victoria Vorraber leitet.

Dazu braucht es wie beim Yoga gute Lehrer und eine entspannte Atmosphäre, weiß Meinhart. Interessierte können zwischen 16 Instrumenten und mehreren Gesangsrichtungen wählen. Die meisten entscheiden sich für das Klavier. Der Start ist für jede und jeden Interessierten völlig zwanglos. Sie sind es, die wählen, wieder verwerfen und sie entscheiden letztlich, welches Instrument sie spielerisch erlernen wollen, Klangwelt60+ sucht entsprechend diesen Wünschen im Umfeld der Musikuniversität geeignete Lehrer.

Das große Plus dieser Initiative ist, dass es praktisch nur Einzelunterricht gibt. Meinhart hat die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Altersgruppe sonst nicht funktioniert. Das bedeutet für die Schule natürlich einen höheren Aufwand, sichert den Schülern aber die individuelle Betreuung. Mit 600 Euro pro Semester ist man dabei.  

Von Anfang an gibt es markante Unterschiede zwischen dieser Zielgruppe und dem jüngeren Publikum, das die Musikpädagogen normalerweise unterrichten. Kinder und Jugendliche kommen meist ohne konkrete Vorstellungen, wohin dieser Weg führen soll. Sie setzen darauf, dass die Lehrer die Initiative ergreifen, so die Erfahrung Meinharts. Eine 67-Jährige, die wieder Klavier spielen will, hat hingegen ganz genaue Vorstellungen, was sie durch den Unterricht erreichen will. Zum Beispiel, dass die Erinnerung an die verhassten Cerny-Übungen in den Klavierstunden ihrer Mädchenzeit auf keinen Fall aufkommen darf. Sie kommt heute, damit sie Lieder von Udo Jürgens begleiten kann. Ein Opa erklärt, er will drei bestimmte Stücke mit dem Cello spielen können. Wie lange das brauchen wird, interessiert ihn nicht, aber er verliert sein Ziel nicht aus den Augen.

„Mir ist völlig egal, was bei dieser Musikstunde rauskommt, aber ich habe ein gutes Gefühl.”

Solche Vorstellungen sind für Meinhart „absolut in Ordnung“ und er bemüht wieder das Beispiel Yoga. Auch da macht jeder, was er kann, und will nicht zu Übungen gezwungen werden, die ihm unangenehm sind. Diese Grundstimmung erfordert Musiklehrer, die sehr flexibel und geduldig sind und auch auf einen Umstand eingehen müssen, der vielen fremd ist. Ältere Musikschüler gehen nicht einfach in die Stunde, um zu üben, sondern sie kommen mit einer Lebensgeschichte. Es gehört psychologisches Geschick dazu, damit umzugehen, dass manchmal in 20 von den 50 Minuten Unterricht persönliche Themen dominieren und nicht Beethoven. 

Der Lohn für diese besondere Art von Musikunterricht ist ebenso speziell. Statt einer Flasche Wein und einem verlegen gehauchten „Danke“ jugendlicher Schüler langen in der Klangwelt60+ seitenlange Briefe von Senioren ein, überzeugende und persönliche Dankesbeweise, Einladungen zu privaten Festen. Selbst einen Lehrerwechsel – bei Jugendlichen gelegentlich ein Drama – stecken die zielorientierte Senioren ohne Murren weg, weil sie ihr Ziel vor Augen haben.

Die meisten älteren Interessierten wollen Klavier lernen oder ihre Kenntnisse wieder auffrischen. Dabei machte Meinhart die erstaunliche Erfahrung, wie viele Grazerinnen und Grazer zu Hause ein Klavier stehen haben, in der Regel unbenützt. Der Unterricht in der Klangwelt60+ findet natürlich mit Klavieren des Hauses statt, aber diese Schüler müssen für das Üben zuhause ihre verstaubten Instrumente wieder aktivieren, gegebenenfalls restaurieren und jedenfalls stimmen. Seither wundert sich der Musikpädagoge nicht mehr, dass Klavierhäuser auch in einer Stadt wie Graz selbst im 21. Jahrhundert florieren.

Jugendliche beginnen Musikunterricht meist euphorisch, können bei mangelndem Erfolg aber alles schnell hinschmeißen. Die Hemmschwelle der Älteren ist hingegen der Einstieg: Kann ich das? Habe ich genug Talent?

Günter Meinhart bekommt beim Erstkontakt oft solche Bedenken zu hören. Ist dieser Punkt überwunden, sind seine reiferen Schüler aber kaum noch zu bremsen und lassen sich – anders als viele Junge – von vermeintlichen Musserfolgen nicht entmutigen. Bei ihnen kommt es nicht so sehr darauf an, ob sie wirklich gut spielen oder singen, sondern die Freude am Lernen steht im Vordergrund. Eine 62-Jährige, die sich dem Jazzgesang verschrieben hat, erklärte Meinhart ganz offen „Mir ist völlig egal, was da rauskommt, aber ich habe ein gutes Gefühl!“ In gewisser Weise scheint auch hier zu gelten: Der Weg ist das Ziel.

Mit dieser Einstellung überwinden Lehrer und Schüler in der Klangwelt60+ auch die kulturelle Prägung vieler Menschen im selbst ernannten Musikland Österreich. Für sie muss die Musik großer Meister nicht perfekt interpretiert werden. Sie ist nicht unantastbar, aber die Freude am Lernen und Musizieren muss es sein. Das trägt wesentlich zur guten Stimmung bei. 

Noch mehr Stimmung kommt auf, wenn sie Schüler das Erlernte auch aufführen, weiß Meinhart und bedauert, dass das in der Corona-Zeit leider nicht möglich war. Im Sommer 2022 wird es aber im Kärntner Ossiach erstmals die Klangwoche60+ geben. Sie führt die Teilnehmer in Chören, kleineren Ensembles und sogar Orchestern zusammen, die das Erlernte und Geübte gemeinsam zur Aufführung bringen. Ein Zusatzprogramm erweitert das Spektrum des Musikalischen sogar um altersgerechtes Tanzen. Dann werden nicht nur Stimmen und Instrumente swingen, sondern auch die Hüften.

Eine Woche Musik

Im Sommer 2022 können die Musikschülerinnen und Musikschüler das Gelernte in der Klangwoche60+ in Ossiach anwenden.

 

© Kurz Remling
27.12.2021