Pflegenotstand – ein Ende in Sicht?

Die Forderungen und die Debatten finden kein Ende. Die Pflege, die Versorgung im Alter beunruhigt nach wie vor die Bevölkerung. Dazu Landesrat Dr. Karlheinz Kornhäusl, Allgemeinmediziner und Facharzt für Innere Medizin im Interview mit „Abenteuer Alter“.

Am Foto ist Dr. Karlheinz Kornhäusl zu sehen.
Herr Dr. Karlheinz Kornhäusl, ist seit Herbst 2023 Landesrat der Steiermark für Gesundheit und Pflege. © Michaela Lorber

Herr Landesrat, Sie wissen am besten, dass Pflege der Menschen aller Altersgruppen meistens zu Hause in den Familien stattfindet. Wenn jetzt schon seit Jahren vom sogenannten Pflegenotstand gesprochen wird, heißt das dann nicht folgerichtig, dass diese Problematik hauptsächlich die Pflege daheim betrifft? 

Karlheinz Kornhäusl: Ich bin mit dem Begriff Notstand immer vorsichtig. Not gibt es in vielen Teilen der Welt, aber die Steiermark mit Not zu verbinden, da würde ich sehr vorsichtig sein. Ohne Zweifel haben wir im Pflege- und im Gesundheitsbereich Probleme und große Baustellen. Mein Zugang war schon immer der zu sagen, dass die Zukunft in der Versorgung in der Vielfalt liegen muss. Wir brauchen unter dem Aspekt „Mobil vor teilstationär vor stationär“ eine Vielzahl an Angeboten. Wir wissen ja, die meisten Menschen, eigentlich fast alle, wünschen sich, in Würde in den eigenen vier Wänden altern zu können. Das ist das Normalste der Welt. Dazu müssen wir die Möglichkeit schaffen.

Sind diese Möglichkeiten ausreichend vorhanden? 

Kornhäusl: Ich möchte darauf hinweisen, dass das Land Steiermark für den ganzen Pflegebereich pro Jahr weit mehr als 800 Millionen bereitstellt. Wir haben im letzten Jahr mit dem steirischen Pflege- und Betreuungsgesetz eine der modernsten Grundlagen in Österreich geschaffen und das müssen wir jetzt mit Leben erfüllen. Das bedeutet Ausbau der stundenweisen Alltagsbetreuung, Ausbau der Tagesbetreuungszentren, Ausbau von mobilen Diensten und vieles mehr. Die stationäre Langzeitbetreuung im Pflegeheim kann nur am Ende des Weges stehen und nicht gleich am Beginn. 

Weil Sie von einem Weg sprechen: Wo auf diesem Weg befinden wir uns gerade?

Kornhäusl: Ich kann das Prinzip „Mobil vor teilstationär vor stationär“ sogar in Zahlen belegen. Wir haben in der Steiermark 13 Bezirke und in mittlerweile neun Bezirken haben wir mehr Menschen in der mobilen oder teilstationären Betreuung als in der Langzeitpflege. 

Können Sie das bitte erläutern? Es heißt ja, etwa 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause von den Angehörigen betreut. Was bedeuten dann Ihre Angaben? 

Kornhäusl: Hier geht es um die in Anspruch genommenen Pflegeleistungen des Landes Steiermark und wir sehen eben, dass die Pflegebedürftigen in den neun Bezirken überwiegend in der mobilen oder tagesstationären Betreuung sind als in der stationären Langzeitbetreuung. Mein Ziel ist, dass in allen Bezirken Möglichkeiten bestehen, dass mehr pflegebedürftige Menschen zu Hause und mobil als stationär betreut werden.

Am Foto ist Dr. Kornhäusl in seinem Büro beim Interview zu sehen.
Erl ist Allgemeinmediziner sowie Facharzt für Innere Medizin und übte diesen Beruf in Landeskrankenhäusern und als Notarzt aus. © Michaela Lorber

Schon Ihr Vorvorgänger hat einst eine Ausbildungsoffensive für Pflegeberufe begonnen, weil klar war, dass wir mehr Betreuungspersonal aller Qualifikationen brauchen. Hat das etwas bewirkt oder hinken wir hier immer noch hinterher, weil die Vorlaufzeiten der Ausbildung so lange sind?

Kornhäusl: Das bringt effektiv etwas und wir haben im letzten Jahr auch den Turbo gezündet. Eines muss immer klar sein: Bei allen Maßnahmen, die wir heute setzen, spürt man die Veränderungen erst morgen. Ausbildung braucht seine Zeit, Veränderungen an einem System, das so komplex ist, brauchen ihre Zeit. Was ich sagen kann: Wir haben die Anzahl der Gesundheits- und Krankenpflegeschulen in der Steiermark von sieben auf 15 aufgestockt. Wir bilden an 15 Standorten im ganzen Land aus! Wir bauen derzeit den Campus der Fachhochschule Joanneum, auch das ist ein Meilenstein. Wenn der fertig gebaut ist, werden jedes Jahr 400 diplomierte Pflegekräfte in Graz und Kapfenberg ausgebildet. An den 15 Krankenpflegeschulen haben wir auf 1.350 Ausbildungsplätze für Heimhilfe, Pflegeassistenz und Pflegefachassistenz ausgebaut. Dazu kommt, dass wir allen an den Schulen ein Mittagessen bezahlen, jede und jeder bekommt ein monatliches Taschengeld, das höher ist als in den anderen Bundesländern. Und wir haben auch mehr Angebote, die Ausbildung berufsbegleitend zu machen. 

Steigt auch die Nachfrage nach Pflegeberufen?

Kornhäusl: Wir spüren, es kommen wieder mehr Leute in den Beruf. Die Plätze sind gut gefüllt. Wir spüren auch in den Pflegeeinrichtungen und in den Spitälern, dass die Pflege wieder kommt.

Wie bewähren sich neue Einrichtungen wie die Pflegedrehscheibe oder die Community Nurses? Hat das einen konkreten Nutzen für die Menschen oder sind das nur Schreibtische?

Kornhäusl: Ganz im Gegenteil! Die Pflegedrehscheiben bei den Bezirkshauptmannschaften geben Hilfestellung, wenn es bereits zu einem Pflegefall gekommen ist: Wo kann ich Förderungen abholen, wer hilft mir bei Umbauarbeiten, was kann ich tun, um eine andere Pflegestufe zu beziehen etc.? Bei den Communitiy Nurses geht es darum, so lange wie möglich zu vermeiden, dass jemand ein Pflegefall wird. Da geht es um Prävention, Vorsorge, Schulungen, um Angebote gegen die Einsamkeit, Angebote im Bereich Bewegung und Sport und vieles mehr. Also alles, was eigentlich jeder von uns tun sollte, um Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuzögern und im Idealfall zu verhindern.

Gibt es auch Hausbesuche, um den Pflegebedürftigen und den pflegenden Angehörigen konkret zu helfen? 

Kornhäusl: Die Pflegedrehscheiben sind in den Bezirkshauptmannschaften für die Menschen da, es gibt Sprechstunden, sie kommen aber auch nach Hause und schauen sich die Umstände vor Ort an. Wir haben wirklich einen bunten Strauß an Möglichkeiten.

Am Bild ist der steirische Landesrat, Dr. Kornhäusl, für Gesundheit und Pflege zu sehen.
Die Pflegedrehscheibe bei den Bezirkshauptmannschaften bieten ein vielfältiges Angebot an Unterstützungen. © Michaela Lorber

Sie haben die Angehörigen angesprochen. Wir von Abenteuer Alter haben starke Rückmeldungen aus diesen Kreisen, dass es bei der Pflege zu Hause nicht nur um die Menschen geht, die Pflege benötigen, sondern auch um die Angehörigen, die diese Pflege leisten. Da gibt es gar nicht so selten Überforderung und wir wissen, dass viele betreuende Angehörige selbst fast schon Pflegefälle sind. Wir begegnen hier unglaublichen Dilemmas. Oft weiß man gar nicht, wie prekär die Verhältnisse sind. Welche Hilfen stehen hier zur Verfügung?

Kornhäusl: Genau auch in solchen Fällen rate ich wirklich dringend, das Angebot der Pflegedrehscheibe zu nutzen. Wir haben sie niederschwellig in jeder Bezirkshauptmannschaft und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es, die Antworten auf diese Fragen geben können. Wie kann ich mir Unterstützung holen? Was muss ich tun, damit ich entlastet werden kann? Welche Angebote gibt es hinsichtlich der stundenweisen Alltagsbegleitung durch mobile Dienste? Welche Tagesbetreuung gibt es? Es ist tatsächlich so, dass sich pflegende Angehörige mit konkreten Fragen Hilfe suchend an uns wenden und wenn wir dann an die Pflegedrehscheibe verweisen, erfahren wir, dass das gar nicht bekannt ist. Oft hören wir nach nur wenigen Tagen, dass alles geklärt und geregelt ist.

Also müssten die Pflegedrehscheiben stärker im Bewusstsein verankert werden. Ist das nicht Ihre Aufgabe?

Kornhäusl: Da sind wir auf dem Weg, aber es dauert natürlich eine gewisse Zeit, bis ein Bekanntheitsgrad erreicht ist. Wir leben hier ganz stark davon, dass die guten Erfahrungen mit den Pflegedrehscheiben weitererzählt werden.  

Sie haben zu Recht angemerkt, dass Sie mit dem Begriff Pflegenotstand keine Freude haben. Werden wir je wieder einen Zustand erreichen, wo man nicht mehr von der Krise im Pflegebereich sprechen wird?

Kornhäusl: Der demografische Wandel ist natürlich da und nicht aufzuhalten. Was mir persönlich aus einem Brotberuf als Arzt und Internist heraus am Herzen liegt, ist das Thema der Prävention und Vorsorge. Jede und jeder von uns kann selbst dazu beitragen, das System zu entlasten, indem man körperlich und geistig herausfordert und fit bleibt. Was das Gesundheitssystem betrifft, sage ich, dass wir mit Ausbildung oder neuen Versorgungsformen alles Mögliche tun, das Pflegesystem zu entlasten.

Schon seit Jahren beschäftigt die Menschen der sogenannte Vermögensregress in den Pflegeheimen und in der Pflege insgesamt. Im neuen Pflege- und Betreuungsgesetz ist in der 24-Stunden-Betreuung aber immer noch so etwas wie ein Rückgriff auf Einkommens- und Vermögenswerte möglich. Ist das die richtige Richtung, die wir da gehen, die Betreuung zu Hause schlechter zu stellen als die im teuren Pflegeheim?

Kornhäusl Ich bin nicht glücklich mit dieser Situation, die auf eine kurze Phase des sogenannten Spiels der freien Kräfte im Jahr 2017 im Nationalrat zurückgeht. Damals wurde bedenkenlos der Regress in Pflegeheimen abgeschafft. In der Steiermark haben wir das zwar kritisiert, aber es blieb nichts anderes übrig, als da mitzutun. Wir haben für die mobilen Dienste ein Modell eingeführt, mit dem Pflegebedürftigen daheim nach Abzug aller Kosten zumindest ein persönliches Minimaleinkommen bleibt. Was die 24-Stunden-Betreuung betrifft, gibt es in der Steiermark für Bezieher niedrigerer Einkommen eine Förderung. Aber ja, die Möglichkeit des Regresses besteht. Ich bin nicht glücklich damit, sage aber auch, das werden wir allein nicht schaffen. Vom Bund erwarte ich, dass er hier eine Lösung findet, wie er es auch für die stationäre Pflege getan hat.

 

Weiterführende Artikel: Auflistung der steirischen Pflegedrehscheiben und Auflistung aller steirischen Vermittlungsagenturen für Personenbetreuer

Foto: © Michaela Lorber, fizkes / Shutterstock.com

Text: Johannes Kübeck