Demenz ist eine Krankheit, über die viel mehr gesprochen werden sollte, sagen Claudia Knopper von der Selbsthilfegruppe Alzheimer (Salz), Heidi Fackler, Fachbereichsleiterin Hilfe und Pflege daheim im Hilfswerk und der Diplomkrankenpfleger Jürgen Gabler. Ein Gespräch über die Krankheit mit den vielen Gesichtern.
Demenz ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern. Was bedeutet Demenz für Sie?
Claudia Knopper: Ich werde nie vergessen, wie ein Arzt zu uns gesagt hat (Knoppers Vater hatte Demenz, Anm.): „Wenigstens hat er keine Schmerzen.“ Daran denke ich oft, speziell, als eine Freundin ihre Mutter unter Schmerzen an Krebs verloren hat. Wenn man lernt, mit Demenz umzugehen, die eigene Trauer wahrzunehmen, und wenn man Werkzeuge findet, wie man die Betreuung managt, verliert Demenz an Schrecken.
Heidi Fackler: Durch die Brille der Mobilen Dienste zeigt sich für mich Demenz als Krankheit, bei der man unterstützt, damit die Patienten so lange wie möglich daheimbleiben und selbstständig leben können. Das ist mit einem funktionierenden Angehörigennetz recht lange möglich. Das braucht aber Struktur, damit sich die demenzkranke Person zurechtfinden kann. Man muss sich mit der Krankheit auseinandersetzen, das ist das oberste Ziel.
Jürgen Gabler: Vom Beruf des Krankenpflegers bedeutet Demenz für mich, die Patienten mit ihrer Krankheit so anzunehmen, wie sie sind, mit allen Verlusten, Defiziten und Leiden. Unsere Gesellschaft neigt vielleicht dazu, die Augen vor Krankheit und Leid zu verschließen, wir möchten mehr das Gute, Gesunde und Schöne sehen. In der Arbeit mit Menschen mit Demenz lerne ich auch mich selbst besser kennen, meine Grenzen wahrzunehmen und lerne von dem vergangenen Leben der PatientInnen, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen. Demenz kann aber auch Positives hervorbringen: Man kann seine eigenen Stärken und Talente immer wieder gut einbringen. Man wird vielleicht auch dankbarer, dass man gesund ist.
Was macht die Krankheit mit den Angehörigen?
Knopper: Die Krankheit ist individuell. Oft darf das Wort „Alzheimer“ nicht einmal in den Mund genommen werden, das muss man respektieren. Es braucht auch richtiges Handeln: Viele fangen an, über den anwesenden Betroffenen in der dritten Person zu sprechen, als würde er nichts mitbekommen. Das geht gar nicht! Wenn der Betroffene etwas „anstellt“, hilft keine Standpauke, im Gegenteil: Das erhöht nur den Stresspegel und er hat weniger Kapazitäten frei, um sich zu koordinieren. Ein Beispiel: Wenn eine Orange am Tisch steht, der Patient sagt: „Gib mir den Apfel“, ist es nicht zielführend, ihn über den „Irrtum“ aufzuklären. Besser wäre, ihm die Orange zu geben und zu sagen: „Da ist die Orange.“
Fackler: Wir als Mobiler Dienst schauen uns die Haushalte mitsamt dem Netzwerk an: Sind Angehörige oder Nachbarn involviert, wie schaut es mit der Körperpflege aus, wer bereitet die Mahlzeiten zu? Wie kann man unterstützen, braucht es Essen auf Rädern? Wir schauen uns die Tagesgestaltung an und binden andere Berufsgruppen ein.
Wann ist die Betreuung daheim nicht mehr möglich?
Fackler: Das hängt vom Stadium der Krankheit ab und davon, ob es Angehörige gibt, die betreuen. Wir haben in der Mobilen Pflege Kunden mit hochgradiger Demenz, die einen strukturierten Tagesablauf und pflegende Angehörige haben, die lange daheim bleiben konnten. Es braucht eine gute Vernetzung mit dem Hausarzt und Aktivierungsmaßnahmen, etwa Motoriktraining, Gedächtnisübungen, gemeinsames Singen, Rätsellösen. Wir schauen, was davon in Gemeinden und in der Umgebung angeboten wird und wie es genutzt werden kann und helfen, einen Tagesablauf zu planen, der für die Person passt. Dazu braucht es Empathie und Vertrauen, damit der Demenzkranke das auch annimmt. Immerhin kommt dann ja täglich eine fremde Person ins Haus.
Knopper: 80 Prozent aller Demenzkranken werden von Angehörigen gepflegt. Das ist kostenintensiv. Wie momentan die Tagessätze in den Tagesbetreuungsstätten in Graz bei einer Pension von 2.500 Euro sind, gehen wir rein rechnerisch von 3.500 Euro aus. Es gibt leider kein 5-Tages-Betreuungsangebot. Wenn man nur an zehn Tagen für je vier Stunden eine Alltagsbetreuung braucht, sind das im Monat 400 Euro. Dazu kommt oft eine Putzfrau, Essen auf Rädern, Medikamente, Inkontinenzprodukte und so weiter. Die Öffentliche Hand zahlt aber nur das Pflegegeld. Es gibt kaum Konzepte, die helfen, dass der Verbleib im häuslichen Bereich ohne die Betreuung durch Angehörige möglich ist. Die Verantwortlichen verlassen sich schon darauf, dass Angehörige pflegen. Wir brauchen mehr Angebote für stundenweise Betreuung zu einem Preis, den man sich leisten kann.
Gabler: Die stationäre Langzeitpflege gerade im Demenzbereich ist unbedingt notwendig. Es ist oft nicht möglich, auch wenn man möchte, seine Angehörigen zu Hause weiterhin zu versorgen. Psychische und verhaltensbezogene Symptome wie Apathie, Aggression, Wandern, Unruhe, Essstörung, Agitation machen es oft nicht möglich zu Hause zu betreuen. Auch weil zu Hause oft keiner mehr da ist, der diesen oft Full-time-Job übernehmen kann.
Knopper: Mobile Dienste mit Alltagsbetreuung ist schon ein guter Schritt, nur ist das derweil noch an einen Anbieter gekoppelt, das heißt, niemand anderer darf dazu Dienste anbieten. Das ist eine Fehlentwicklung. Politisch ist da einiges falsch gelaufen. Die Tagessätze in der Tagesbetreuung wurden zudem empfindlich erhöht, es gibt gerade eine Tendenz Richtung Unterbringung im Pflegeheim. Wir reden immer von Menschen im mittleren und schweren Stadium, aber die im leichten ignorieren wir komplett, für die gibt es kein Angebot, keine Beratungen. Viele können lange Zeit für sich sprechen, brauchen aber persönliche Assistenzen, etwa um von A nach B zu kommen.
Wie werden sich die Krankheitszahlen entwickeln?
Knopper: Wir haben heute 130.000 bis 150.000 Demenzkranke in Österreich – das ist aber nur die Dunkelziffer -, bis 2050 wird sich die Zahl verdoppeln. 2000 kam auf 60 Erwerbstätige ein Demenzkranker, 2050 wird ein Demenzkranker auf 15 Erwerbstätige fallen.
Gabler: Die Menschen werden heute, dank der verbesserten medizinischen Versorgung, immer älter. Damit steigt aber leider auch die Anzahl derjenigen, welche an einer Demenz erkranken. Man weiß auch, dass in naher Zukunft die Babyboomer in ein Alter kommen, in dem sie Pflege und Betreuung benötigen werden. Es wird bei aller Voraussicht schwierig werden, ausreichend gut qualifizierte Pflegepersonen zu bekommen.

Das sind ja düstere Aussichten. Wer pflegt aktuell?
Fackler: Nur sechs Prozent aller Pflegegeldbezieher haben eine 24-Stunden-Betreuung, 38 Prozent werden von Angehörigen gepflegt und betreut, 33 Prozent von Mobilen Diensten, 21 Prozent sind in einer stationären Einrichtung.
Gabler: Bevor die Patientinnen und Patienten zu uns in die GGZ kommen, werden sie in der Regel schon lange zu Hause betreut. Die Pflegeheime und Krankenhäuser könnten unmöglich alle pflegeabhängigen Menschen versorgen. Ich finde man sollte den Angehörigen mehr Dankbarkeit entgegenbringen und es nicht als Selbstverständlichkeit abtun.
Knopper: Ein Ortswechsel ist für den Betroffenen immer ein Schock, den man vermeiden sollte. Ich habe einen Fall, wo die Tochter mit 50 Jahren an Demenz erkrankt ist und die Mutter mit 82 die Betreuung übernimmt. Hier wird sich die Frage stellen, wie lange sie das noch schafft. Oft stehen Männer an, weil der Haushalt immer von der Frau geführt wurde und sie beispielsweise erst das Kochen erlernen müssen. Oder Frauen, die ihre erkrankten Männer nicht aufheben können. Hier fehlt es an Kreativpotenzial, das müsste man anders lösen können.
Wie könnte das aussehen?
Knopper: Man muss den Markt aufmachen. Wir reden immer über Pflege, dabei braucht es oftmals nur eine Betreuung. Es braucht mehr Kooperationen und Zusammenarbeit. Helfen würden ein Bezugsbetreuer, der den Überblick über die Situation behält und bei Bedarf die erforderlichen Interventionen setzt, ein Behandlungsplan, in den alle eingebunden sind, und vor allem Ärzte, die die Betroffenen nicht mit dem Rat „gehen’s noch ein bisserl garteln“ heimschicken. Es bräuchte jemanden, der mit dem Haushalt Kontakt hält, der sich in bestimmten Intervallen die Situation ansieht und benötigte Dienste ins Haus bringt sowie die geistige Fitness überprüft. Aktuell sind Betroffene auf sich gestellt.
Gabler: Man muss die Angehörigen lange vor der Heim-
unterbringung erreichen und ihnen zur Seite stehen. Sie brauchen zum einen ein inhaltlich-fachliches Know-how über die Erkrankung selbst, deren Verlauf, über geeignete Hilfsangebote und auch sehr wichtig über die eigene Selbstfürsorge. Zum anderen benötigen sie praktische Tipps, wie man mit Beschuldigungen der Patienten umgeht oder wie sie es schaffen, dass ihr Angehöriger sich einfach wäscht und anzieht, obwohl er es nicht will. Wir sprechen hier in den GGZ von der „abgestuften Demenzversorgung“, beginnend mit der Diagnose bis hin zur vollständigen stationären Aufnahme.
Knopper: Mehr Öffentlichkeit und Bewusstsein braucht es auf jeden Fall, denn die Betroffenen wollen ja auch einkaufen gehen und Eis essen. Und ja, sie machen schräge Dinge. Meine Vision wäre, dass Menschen mehr über die Krankheit wüssten, um die Betroffenen und die Angehörigen besser unterstützen zu können. Die Kassiererin im Supermarkt muss wissen, wie sie richtig reagiert, wenn ein demenzkranker Mensch vor der Kasse die Ware vom Fließband wieder in den Wagen zurücklegt, die Polizei muss wissen, wie sie mit einem Betroffenen umgeht, der vom Heim ausgebüchst ist. Wenn die sagen: „Polizei! Kommen Sie mit!“, wird das nicht funktionieren.
Wie merkt man beginnende Demenz?
Knopper: Das Vergessen ist es jedenfalls nicht. Es sind eher Verhaltensauffälligkeiten oder wenn der Betroffene komplett uneinsichtig ist. Die meisten merken es, wenn Dinge passieren, die man nicht einordnen kann, wenn die Handlungen irrational werden.
Fackler: Oft beginnen Betroffene, ihre Angehörigen zu beschuldigen, etwas gestohlen zu haben, was man selbst verlegt hat.
Gabler: Was nichts anderes heißt als: Mir fehlt etwas, vielleicht braucht der Erkrankte gar nicht unbedingt und sofort das längst verlorene Geldbörserl oder den Schlüssel von früher, sondern etwas ganz anderes wie Zuwendung und jemanden, der ihm zuhört und ihn so annimmt wie er jetzt ist. In diesem Moment braucht es eine einfühlsame Kommunikation und keinen Gegenangriff.
Fackler: Angehörige haben oft Wissenslücken, obwohl so viel zum Thema angeboten wird. Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten erst mit Demenz beschäftigen, wenn es aktuell ist.
Gabler: Zu unserer Angehörigenschulung in das Albert Schweitzer Trainingszentrum kommen immer mehr junge Menschen, die sich informieren wollen, was zu tun ist, weil die Oma oder der Nachbar in letzter Zeit „so anders“ ist. In den Schulungen zeigt sich auch, wie stark belastet Angehörige sind. Viele Herausforderungen in der Pflegepraxis lassen sich durch konkrete Tipps von uns Vortragenden und von den anderen Angehörigen gut lösen.
Knopper: Es braucht ein Demenzteam, ähnlich dem Palliativteam, bei dem man anrufen kann, wenn man Hilfe braucht. Was ist, wenn mit der pflegenden Person etwas passiert? Früher hat es dafür Gemeindekrankenschwestern gegeben, die sind ja zum Glück wieder im Gespräch. Es braucht unbedingt eine rasche Unterstützung bei der Betreuung und Pflege.
Welche Forderungen hätten Sie?
Knopper: Es braucht gut ausgebildete Ärzte und Pflegepersonal, Hausärzte, die einem Behandlungsplan bei Verdacht auf eine dementielle Erkrankung folgen. Es braucht Behandlungspläne ab der Diagnose: Wie geht es weiter, welche Institutionen können helfen und wie? Es braucht stundenweise Betreuung in Form von persönlicher Assistenz mit Bezug zur Familie, den der Betroffene noch selbst anfordern kann. Und es braucht eine getrennte Betrachtung von Betreuung und Pflege.
Fackler: Es braucht mehr finanzierbare Dienstleistungen für Menschen mit Demenz, die daheim bleiben wollen. Die Hauskrankenpflege alleine reicht manchmal nicht aus, um demenzkranke Menschen zu Hause umfassend betreuen zu können.
Gabler: Ich bin skeptisch, dass wir die kommenden Herausforderungen im Gesundheitssystem gut stemmen werden können. Es braucht einen Wandel im miteinander. Wir Menschen müssen wieder mehr aufeinander zugehen und gemeinschaftlich versuchen, die Herausforderung Demenz und Pflege zu lösen. Bezahlung von Angehörigen könnte ein guter Punkt sein, Pflegepersonen aus dem Ausland sind glaube ich unerlässlich, wobei auf die Ausbildung viel Wert gelegt werden sollte. Aber ich denke, es wird sehr schwierig werden.
Wollen wir dieses Thema etwas heiterer beenden. Was bedeutet Humor in der Zusammenarbeit mit Demenzkranken?
Gabler: In den zehn Jahren, die ich auf unserer Memory Klinik arbeite, habe ich viele humorvolle Geschichten erlebt. Humor ist auch sehr individuell, auf jeden Fall macht es den Pflegealltag schöner und bunter, gerade wenn der Humor zur Freude erhoben wird.
Fackler: Humor macht’s im Alltag leichter. Aber das ist eine Sache des Gespürs. Mit Humor findet man leichter Zugang zu Menschen.
Knopper: Humor holt oftmals Druck aus der Situation. Wenn ich meinem Gegenüber mit einem breiten Lächeln begegne, lacht es zurück.
Demenz – so sieht es aus
In den kommenden Jahren wird sich laut Weltgesundheitsorganisation WHO die Zahl der Demenzkranken deutlich erhöhen, bis 2030 von derzeit 50 auf bis zu 82 Millionen, bis 2050 mit weltweit 152 Millionen Betroffenen. Vor dem 65. Lebensjahr sind nur wenige Menschen betroffen, unter den 85- bis 89-Jährigen leidet rund jeder Vierte an Demenz.
Was die WHO empfiehlt
Wer sich mehr bewegt und mit dem Rauchen aufhört, kann auch einer Demenz-Erkrankung vorbeugen, heißt es seitens der WHO. Übergewicht, Diabetes und Blut-
hochdruck erhöhen ebenfalls das Demenz-Risiko. Empfohlen wird ein aktiver Lebensstil, verbunden mit der Erhaltung der geistigen Fitness. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass körperlich aktive Menschen seltener an Demenz oder Alzheimer erkranken.
Hier gibt’s Informationen und Beratung
Einen breiten Überblick über das Thema Demenz bietet das Demenzportal: von Warnsymptomen, Prävention, Risikofaktoren, Früherkennung und Diagnose, Krankheitsverlauf, Behandlung, Forschung, über die Bewältigung des Alltags, Informationen für Angehörige bis hin zu den Themen Recht und Betreuung.
Für die Steiermark bietet die Selbsthilfegruppe Alzheimer (Salz) wertvolle Informationen und Beratungen. Auf der Homepage wird zudem auf Vorträge, Veranstaltungen und Sprechtage in Graz und anderen Städten in der Steiermark hingewiesen. Gegründet wurde der Verein „Salz – Steirisch Alzheimerhilfe“ von vier Frauen, darunter auch die im Talk vertretene Claudia Knopper, die aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, wenn ein Angehöriger an Demenz erkrankt und welche Hilfestellungen es braucht.
Rund 200 Mitglieder aus dem wissenschaftlichen Bereich sind in der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft (ÖAG) zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, die Grundlagenforschung und angewandte Forschung voranzutreiben, aber auch Betroffene und Angehörige zu informieren:
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