Barfuß durch das Alter

Allein schon der Gedanke an einen Sturz erzeugt schwer beherrschbare Angstgefühle, die Furcht, bewegungsunfähig zu sein und keine Hilfe herbeirufen zu können, lässt bei vielen Senioren die Lebensqualität deutlich sinken, zu groß ist das undefinierbare Unbehagen vor dem finsteren Schreckgespenst „Was passiert, wenn…?“ Das hundertprozentige Rezept, das jedes denkbare Unfallgeschehen verhindert, gibt es zwar nicht, aber wertvolle Tipps, wie sich das Risiko deutlich senken lässt. Die medizinisch belegte Formel dazu: barfuß gehen.

Der Facharzt für Orthopädie, Orthopädische Chirurgie und Sportorthopädie, Harald Effenberger, vertritt schon seit Jahrzehnten die Auffassung, dass die Menschen viel mehr barfuß gehen sollten und hat sich gerne die Zeit genommen, dem Leserpublikum von Abenteuer Alter die enormen gesundheitlichen Aspekte des Barfußgehens näher zu bringen. Der Arzt und Wissenschaftler, selbst seit dem vergangenen Herbst im Ruhestand, also auch schon der Generation 65+ angehörig, sportlich drahtig und gertenschlank, überzeugt schon durch sein Äußeres, dass er seinen Anschauungen gemäß lebt. Oder doch nicht ganz? Bei unserem Interview trägt er jedenfalls Schuhe.

Herr Effenberger, Ihren Publikationen lässt sich entnehmen, dass sich Barfußgehen zwar allen Altersgruppen empfiehlt, Senioren aber ganz besonders.
Professor Dr. Harald Effenberger: Das ist richtig, denn bei ihnen geht es zusätzlich auch um die Sturzprophylaxe, das heißt mit anderen Worten, schlimme Unfälle zu verhindern. Bei älteren Menschen geht es bei der Bewegung mit bloßen Füßen auch darum, den sogenannten Vorfußgang wiederherzustellen. Bei dieser Personengruppe kann durch Schulung der Sensomotorik das Sturzrisiko gesenkt werden. Generell gilt: Je kräftiger die Fußmuskulatur ist, desto geringer ist die Sturz- und Verletzungsgefahr.

Wie darf man sich als Laie die Wirkung des Barfußgehens auf Füße und den Bewegungsapparat überhaupt vorstellen?
Beim Barfußgehen wird der Fuß über den Ballen des Vor- und Mittelfußes abgerollt. Der Druck, der im Vergleich beim Fersengang mit Schuhen über die Ferse und Hüfte an die Wirbelsäule geht, wird abgeschwächt und gedämpft. Die vielen kleinen und großen Zehen- und Mittelfußknochen, Gelenke, Sehnen und Muskeln fangen den Druck ab. Ohne Schuhe, die die Fußsohlenreflexe abblocken, werden natürliche Bewegungsabläufe aktiviert, Stöße gedämpft und Unebenheiten automatisch ausgeglichen. Eine trainierte Fußmuskulatur wirkt damit als Stoßdämpfer. 

Sie vertreten auch die Ansicht, dass Barfußgehen nicht allein dem Bewegungsapparat hilft, sondern das gesamtheitliche Befinden beeinflusst.
Das Barfußgehen tut auch der Psyche gut: Der unmittelbare Kontakt der Fußsohlen mit dem Boden wirkt entspannend und bewusstseinserweiternd. Stress wird abgebaut, neue Energien werden getankt, die Konzentration wird gefördert. Barfußaktivitäten wirken sich positiv auf die Stimmungslage aus und können die Behandlung von körperlich oder psychisch bedingten Beschwerden des Bewegungsapparates unterstützen.

Sehen Sie sich da als moderner Mediziner selbst auf den Wegen des Pfarrers und Kaltwasser-Papstes Sebastian Kneipp wandeln?
In gewisser Hinsicht schon, der gesundheitsfördernde Kneipp-Effekt kommt auf alle Fälle dazu: Barfußgehen auf taufrischen Wiesen und im Wasser stärkt die Abwehrkräfte und das Immunsystem, wechselnde Temperaturreize des Untergrunds stimulieren den Körper. Die Reaktivierung des Tastsinns regt die Durchblutung, das Herzkreislaufsystem und letztlich den gesamten Organismus an. Kneipp begründete das vor allem mit einem durchblutungsfördernden Abhärtungseffekt. Da die Fußmuskeln beim Barfußgehen viel aktiver als in Schuhen arbeiten, wird durch die Muskelarbeit und die Temperaturreize Körperwärme erzeugt. Auch die Fußsohlenreflexe können sich ungehindert entfalten. Barfüßigkeit aktiviert auf natürlichen Wegen die Fußreflexzonen, hat durch den Massageeffekt einen positiven Einfluss auf die Organe und wirkt regulierend auf den Blutdruck.

Also nichts als weg mit allem Schuhwerk und bloßfüßig hinaus auf die Wiesen und in die Wälder?
Nur nichts überstürzen – ganz wichtig ist es, langsam und behutsamen zu starten. Es gibt jedoch, wie ich ausgeführt habe, genügend Gründe, um den bevorstehenden Sommer für mehr Fußfreiheit zu nutzen. Aber jeder sollte daran denken, dass durch den Ballengang andere Muskeln, Knochen und Bänder stärker als bisher beansprucht werden – daran muss der Körper sich erst gewöhnen. Allmählich lässt auch die anfängliche Schmerzempfindlichkeit nach, sodass man bald für längere Zeit entspannt gehen kann. Die Fußsohlenhaut wird ein wenig dicker und widerstandsfähiger, die Fußnerven werden mit den neuen Eindrücken vertraut. Wichtig ist, die Füße bewusst anzuheben. Zum Beginnen empfehlen sich kurze Strecken, ansonsten riskiert man Überlastungserscheinungen wie zum Beispiel Muskelkater oder Sehnenscheidenentzündungen. Anfangs wird die neue Belastung die Füße ermüden, letztendlich aber ein neues Fußgefühl vermitteln. 

Barfußgehen ist also mehr als nur keine Schuhe tragen?
Barfußgehen ist Doping für die Füße und vermittelt nicht nur ein neues Fußgefühl, sondern ein neues Lebensgefühl.

 

Dieter Rupnik
Beitrag veröffentlicht am 31. Juli 2020
Bildquelle: Shutterstock